Zurück ins Land der Schweizer Winzer des Zaren
Eine Delegation von Politikern, Diplomaten, Winzern und Nachkommen der Schweizer Kolonie von Chabag, oder auch Helvetianopolis, in der Ukraine hat deren Gründer die Ehre erwiesen. Der Botaniker Louis-Vincent Tardent aus Vevey ist vor genau 225 Jahren geboren.
Die 30 Besucherinnen und Besucher aus der Schweiz wurden vom ukrainischen Staat sowie dem russischen Honorarkonsul in Lausanne, Frederik Paulsen, und Vaja G. Jukuridzé, Besitzer der Kellereien von Shabo, eingeladen.
Dabei waren auch der Schweizer Botschafter in Kiew, Christian Schoenenberger, und sein ukrainischer Amtskollege in Bern, Ihor Dir.
«Wir sind diesen Schweizer Winzern, die uns die Weinkultur gebracht haben, ewig dankbar», erklärte der ukrainische Geschäftsmann. Jukuridzé übernahm 2003 die Kolchose, die nach dem Zweiten Weltkrieg von der Sowjetunion auf dem beschlagnahmten Land der 1822 eingewanderten Schweizer Siedler errichtet worden war.
Zum 225. Geburtstag des Gründers Louis-Vincent Tardent plante Vaja G. Jukuridzé die Einweihung eines Leuchtspringbrunnens sowie ein Feuerwerk. Auf den «Champs-Elysées» von Chabag wurden Schilder mit dem Schweizer Kreuz angebracht, um die Odyssee dieser Waadtländer Winzer zu zeigen.
Diese waren auf Pferdewagen auf ihre 2137 Kilometer lange Reise aufgebrochen: Vevey 0 km, Bern 70 km, Zürich 175 km, St. Gallen 235 km, München 435 km, Wien 800 km, Brünn 910 km, Lemberg (Lwiw) 1480 km, Chisinau (Moldawien) 1985 km und schliesslich die Stadt Akkermann (Belgorod) 2137 km, 60 km von Odessa entfernt.
Die Schweizer Winzer waren am 19. Juli 1822 in Vevey aufgebrochen und erreichten ihr Ziel am 29. Oktober.
Vom Léman zum Liman
Während der ganzen Reise hat Uranie Tardent, die Frau des Kolonie-Gründers, geborene Grandjean aus Neuenburg, alle Irrungen und Wirrungen der Expedition aufgezeichnet, auf der sie sieben ihrer acht Kinder mitnahm, darunter das jüngste, ein eineinhalbjähriges Mädchen.
«Adieu Vevey! Adieu meine Freunde! Bei der Ankunft in Moudon verlässt mich mein Mut…», schreibt sie in ihrem Reisetagebuch, das von ihren Nachkommen in Australien gefunden wurde.
Von Moudon, Kanton Waadt, bis zu ihrem Ziel standen noch 2100 Reisekilometer vor ihr, auf Strassen, die von Wegelagerern und Wölfen unsicher gemacht wurden. Bei der Ankunft starben die sieben Pferde, die den Reisewagen gezogen hatten, vor Erschöpfung.
Auf dem Friedhof der Siedler, der gegenüber dem Liman (so hiess die Mündung des Flusses Dniestr vor der Ankunft der Waadtländer) liegt, hat der neue Besitzer mit der Restaurierung der Gräber den Siedlern die Ehre erwiesen. Die Operation war vor allem von symbolischer Natur, denn die Familiengräber wurden vor langer Zeit geplündert, und man kennt ihre genaue Anordnung nicht.
In Anwesenheit der Waadtländer Staatsrätin Jacqueline de Quattro haben die Nachkommen der «Waadtländer des Zaren» Blumen an einem zu deren Ehren errichteten Grabstein niedergelegt. Es gab eine Schweigeminute zu Ehren von Bruno Gander, Präsident der Vereinigung der Chabaner, der am Vorabend der Abreise der Schweizer Delegation in die Ukraine gestorben war. Es war sein Traum gewesen, eine letzte Reise ins Land seiner Vorfahren zu machen. Dazu reichte es nun nicht mehr, und es gibt immer weniger, die in der Schweizer Kolonie gelebt haben.
Rückkehr zum Anfang
Als die Rote Armee vor 72 Jahren in Chabag eindrang, kehrten die meisten Schweizer Siedler Hals über Kopf in ihre Heimat zurück, auch die Waadtländerin Trudi Forney-Zwicky, die jetzt an der Zeremonie dabei war. Sie war acht Jahre alt, als sie damals Chabag verliess, das Dorf ihres Vorfahren Henri Zwicky, Glarner Dienstbote von Louis-Vincent Tardent und ehemaliger Soldat der Armee Napoleons.
Auch Claudette Beauvard-Tardent war an der Zeremonie in Chabag dabei. Sie ist eine direkte Nachfahrin des Gründers. Sie trifft mit ihrem Mann ihre Cousine Nathalie Mayer-Laurent. Diese war Lehrerin und eine der wenigen Nachfahrinnen jener Schweizer, die unter Stalin geblieben sind. Sie spricht heute nur Russisch.
Der letzte Bürgermeister von Chabag, David Besson, wurde nach Sibirien deportiert. Er sei 1942 dort gestorben, erzählt seine Enkelin Violette, die in Lausanne lebt und jetzt nach Chabag gekommen ist, um das Haus ihrer Mutter Alice wiederzusehen.
Militärlager mitten im Dorf
«Aber wo befindet sich denn das Haus der Gander?» Mit einem Dorfplan der 1930er-Jahre in den Händen, möchte Walter Gander, Professor an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETHZ), unbedingt das Haus seiner Vorfahren besuchen. Seine Frau Heidi kennt sich in der Sache gut aus. Sie hat früher an der Universität Zürich ihre Doktorarbeit über die Schweizer Kolonie in Chabag verfasst.
Die «de la Harpe-Strasse» und die «Helvetia-Strasse» sind leicht zu erkennen, das Gander-Haus jedoch ist unauffindbar. «Heureka!», ruft Walter Gander plötzlich. Das Haus wurde abgebrochen, um einem Militärlager der Roten Armee und ihren Panzern Platz zu machen.
Und die Schule für die Waadtländer Kinder diente der sowjetischen Armee dann als Kaserne, später ebenso der ukrainischen Armee. Mittlerweile wurde die Schule abgebrochen. «Ich komme zum dritten Mal nach Chabag, und jetzt weiss ich, warum mein Haus nicht mehr da ist», sagt der Zürcher Professor.
Ein Trinkspruch und 100’000 Franken
Beim Abendessen und den Trinksprüchen auf die Gesundheit der Chabaner lädt Jukuridzé seine Gäste erneut ein, diesmal zur Einweihung der Kirche, die sich ganz nahe bei seiner Weinkellerei befindet.
Die Kirche wurde 1847 von Pfarrer Bugnion aus Belmont-sur-Lausanne erbaut. Der Kirchturm wurde von Stalin zerstört, und die Kirche diente dann den Truppen der Roten Armee als «Clubhaus».
Auch der russische Honorarkonsul in Lausanne, Frederik Paulsen, der das Flugzeug für die Reise nach Odessa gechartert hat, hebt das Glas: «Ich spende 100’000 Franken für den Wiederaufbau des Tempels.»
Und beim Abschied sagt er: «Obwohl Chabag heute in der Ukraine Teil des russischen Erbes ist, ist diese direkte Verbindung zwischen dem alten Russland und dem Kanton Waadt aussergewöhnlich. Es ist mir ein grosses Vergnügen, zur Erhaltung dieses Erbes etwas beizutragen.»
Über den alten Weinkellern der Siedler hat der Ukrainer Vaja G. Jukuridzé eine ultramoderne Weinkellerei eingerichtet. Dafür hat er 1100 ha Rebstöcke angepflanzt, mehr als auf den Terrassen des gesamten Lavaux (920 ha) stehen.
Der Wein wird in der Ukraine und in Russland verkauft – und ab 2013 auch in der Europäischen Union, falls die Shabo-Weinkellerei die Exportlizenz erhält.
Jukuridzé hat auch die Weinkeller der Familien Laurent und Thévenaz erneuert. Diese waren 1937 von König Karol II. von Rumänien, dem Vater des Königs Michael, besucht worden. Bessarabien war zwischen den beiden Weltkriegen rumänisches Territorium.
Er richtete Degustationshallen ein, einen Gastro-Tempel und ein Museum. Dieses wurde vom Schweizer Hugo Schaer initiiert und ist dem grossen Waadtländer Fréderic-César de la Harpe gewidmet, dem Hofmeister von Zar Alexander I. De la Harpe setzte sich dafür ein, den Waadtländer Siedlern die Weinberge anzuvertrauen.
Jukuridzé investierte insgesamt 25 Millionen Franken in die neuen Einrichtungen, eine beträchtliche Summe in einem Land, wo der Durchschnittslohn 300 Franken beträgt und die Rente weniger als 100 Franken.
(Übertragung aus dem Französischen: Jean-Michel Berthoud))
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